„Ach, der ist nur stur. Gestern ist der auch noch auf den Hänger gegangen.“ Oder doch lieber „Der friert so sehr, ich mache ihm erst mal einen schönen warmen Tee“ – Wo liegt die Grenze zwischen Fürsorge und Vermenschlichung beim Pferd?

Darüber haben wir uns in unserer Podcastfolge unterhalten:

Ich möchte das Thema hier aber gern noch etwas weiter aufdröseln.

  1. Beispiele der Vermenschlichung
  2. Vorteile der Vermenschlichung
  3. Nachteile der Vermenschlichung
  4. Warum vermenschlichen wir überhaupt? Die Psychologie dahinter
  5. Was sagt die Ethik dazu?
  6. Sollten wir Vermenschlichung vermeiden?
  7. Fazit
  8. Quellen

Beispiele der Vermenschlichung

In der Einleitung habe ich schon zwei Varianten genannt. Die waren natürlich ziemlich plakativ, dabei gibt es wirklich viele Beispiele für Situationen, in denen Pferde vermenschlicht werden:

  • Eindecken im Winter
    Uns ist kalt, also denken wir, dass unser Pferd auch frieren muss. Dabei haben Pferde ein ausgezeichnetes Thermoregulationssystem und brauchen oft weniger Schutz, als wir annehmen. Tatsächlich liegt ihre Wohlfühltemperatur weit unter unserer eigenen, sodass sie unter einer Decke auch schnell überhitzen können. Was nicht heißen soll, dass es nicht auch gute Gründe für das Eindecken geben kann!
  • Fütterung nach unserem Geschmack
    Warmes Mash an kalten Tagen, abwechslungsreiche Futtersorten, hier noch ein bisschen und da noch mal eine neue Sorte – weil wir selbst gern Vielfalt und Abwechslung auf dem Teller haben. Tatsächlich kann Abwechslung im Futter als Enrichment dienen und so das Wohlbefinden unserer Pferde fördern, doch zu häufige Futterwechsel können das Verdauungssystem belasten und schlimmstenfalls zu Koliken führen. Außerdem führt zu viel energiereiches Futter schnell zu Übergewicht – ein großes Problem in der Pferdewelt, das auf Kosten der Gesundheit der Tiere geht.
  • Tee bei Husten
    Ein altes Hausrezept, weil unsere Eltern uns auch immer Tee oder Suppe gemacht haben, wenn wir Husten hatten? Schließlich tut so ein warmes Getränk gut und die Kräuter können gegen Husten helfen, oder nicht?
    Grundsätzlich ist gegen Tee gar nichts einzuwenden (wenn die Kräuter passen und das Getränk nicht zu heiß serviert wird), aber als Hustenmittel ist es eher ungeeignet. Beim Pferd gilt Husten als Spätsymptom, sodass im Körper vorher schon viel passiert ist. Wer das nicht ernst nimmt, riskiert, dass das Geschehen chronisch wird und das Pferd equines Asthma entwickelt.
  • Erklärungen von Verhalten
    Das Pferd traut sich nicht in den Anhänger oder an der Mülltonne vorbei, die regelmäßig in der Einfahrt steht? Es stellt sich nur an, ist stur oder will uns verarschen!
    Das ist leider sehr menschlich gedacht. Das Pferd nimmt Reize ganz anders wahr als wir Menschen und ist als Fluchttier darauf ausgerichtet, sein Leben zu retten. So weit vorauszuplanen und bewusst jemanden verarschen zu wollen, was mit negativen Konsequenzen einhergehen würde, würde dem Pferd überhaupt nichts bringen (selbst wenn wir darüber diskutieren können, ob sie in der Lage sind, Konsequenzen so weit vorauszuahnen).

Wahrscheinlich gibt es noch viele weitere Beispiele, aber ich denke, die hier aufgezählten zeigen bereits, wie häufig es passiert, dass wir Pferde vermenschlichen. Das geht uns allen so (auch dann, wenn wir uns für sehr reflektiert halten, kann das schnell mal passieren) und das ist erst mal nicht unbedingt etwas Schlechtes.

Vorteile der Vermenschlichung

  • Stärkere Bindung
    Durch das Kümmern fühlen wir uns emotional mit unserem Pferd verbunden. Die Fürsorge stärkt unsere Beziehung, was für Mensch und Pferd positiv sein kann.
  • Empathie
    Wir wollen, dass es unserem Pferd gut geht – das ist eine tolle Eigenschaft! Nur ein empathischer Mensch wechselt die Perspektive und kann Annahmen dazu treffen, was das Pferd gerade denkt oder fühlt und entsprechend darauf reagieren.
    Aber auch empathische Menschen sind nicht davor gefeit, Fehler in der Interpretation zu machen.

Nachteile der Vermenschlichung

  • Fehlinterpretation von Verhalten
    Ein Pferd, das nicht in den Hänger will, ist „stur“ oder „hat keinen Bock“? In Wahrheit hat es vermutlich Angst oder kann aufgrund der Lichtsituation den Anhänger nicht einschätzen, denn Pferdeaugen passen sich ganz anders (nämlich deutlich langsamer) an dunklere Umgebungen an als menschliche. Die Interpretation kann schnell zu vermehrtem Druck und einer Eskalation führen, wodurch das Pferd den Anhänger womöglich längerfristig negativ verknüpft.
  • Nicht artgerechte Entscheidungen
    • Dicke Decken, die das natürliche Thermoregulationssystem stören, wenn sie nicht benötigt werden.
    • Exzessive Boxenhaltung, weil wir es als gemütlich empfinden oder denken, dass Pferde genau wie wir lange schlafen und ein kuscheliges Bett brauchen, obwohl Pferde als Lauftiere Bewegung und Sozialkontakt brauchen.
    • Zu wenig Futter über Nacht, weil wir davon ausgehen, dass das Pferd über Nacht hauptsächlich schläft.
    • Tee kochen bei Husten, anstatt die Ursache zu suchen und zu bekämpfen.
    • Zu wenig Bewegung, weil wir unser Pferd als „Freizeitpartner“ sehen und nicht als Lauftier mit täglichem Bewegungsbedarf.

Pferde zu vermenschlichen kann also ein Widerspruch zum aktuellen Wissensstand sein. Heute wissen wir mehr über Pferdeverhalten als je zuvor. Viele Vermenschlichungen stammen aus alten Glaubenssätzen oder unserer eigenen emotionalen Wahrnehmung – nicht aus der Wissenschaft.

Aber apropos Wissenschaft:

Warum vermenschlichen wir überhaupt? Die Psychologie dahinter

Natürlich gibt es in der Wissenschaft einen Begriff für das Vermenschlichen. Das Phänomen nennt sich Anthropomorphismus – das Zuschreiben menschlicher Eigenschaften an Tiere oder Objekte. Gleichzeitig ist es gar nicht so einfach, eine richtig zufriedenstelle Antwort auf die Frage zu bekommen, warum wir Menschen das machen. Ich versuche mal, zusammenzufassen, was ich herausfinden konnte.

Menschen neigen dazu, selbst in einfache Objekte soziale Geschichten hineinzuinterpretieren. Ein berühmtes Beispiel ist die Studie von Heider & Simmel (1944): Darin wurde Teilnehmenden ein Video gezeigt, in dem sich zwei Dreiecke und ein Kreis bewegten. Beobachtende deuteten diese Bewegungen als Liebesgeschichte oder Konflikt – obwohl es nur geometrische Formen waren! (Du kannst gern einmal ausprobieren, ob es dir ähnlich geht)

Warum tun wir das?

Der Mensch hat einen intrinsischen Wunsch nach Verbindung – wir suchen nach Wesen, die uns verstehen und die wir verstehen.

Dabei werden vor allem Tiere vermenschlicht, die bereits lange mit dem Menschen zusammenleben, eine annähernd menschliche Gestik und Mimik besitzen und/oder Tiere, die dem Kindchenschema entsprechen.

Kindchenschema

Das Kindchenschema besagt, dass bestimmte Körpermerkmale dazu führen, dass Menschen andere Lebewesen als süß und schutzbedürftig empfinden. Das betrifft unter anderem Lebewesen mit einem proportional großen Kopf, einer hohen Stirn, relativ weit unten liegenden Gesichtsmerkmalen, einem rundlichen Kopf, großen Augen und einer kleinen Nase.

Unser Gehirn unterscheidet nicht unbedingt, ob wir einen Mensch oder ein Tier vor uns haben: Wenn wir sehen (und erkennen), dass ein Tier leidet, werden im Gehirn die gleichen Areale aktiviert, wie wenn ein Mensch leidet. Das zeigt, dass wir uns empathisch verhalten.

Außerdem ist unser Gehirn darauf ausgelegt, viele Reize möglichst einfach zu verarbeiten. Ansonsten wären wir ständig damit beschäftigt, alles im Detail zu analysieren. Das wäre viel zu umständlich und kompliziert. Was aussieht wie ein Löwe und sich anhört wie ein Löwe, ist vermutlich ein Löwe und sollte verursachen, dass wir um unser Leben rennen. Hätte unser Gehirn früher also nicht dazu lernen, Kategorien bilden und Heuristiken nutzen können, wären wir vermutlich längst ausgestorben.

Heuristiken sind verkürzte, ressourcensparende Schlussfolgerungen, die in den meisten Situationen ausreichend richtig sind.

Dass wir es uns einfach machen und nach unseren eigenen Maßstäben gehen, ist also erst mal absolut menschlich. Leider greifen Heuristiken in komplexen Situationen nicht unbedingt gut, weswegen es zu verschiedenen Urteilsfehlen führen kann, wenn wir ihnen in diesen Momenten erliegen.

Wenn Menschen zu einer Person nichts wissen, nutzen sie zum Beispiel die Simulationsheuristik und bilden ihr Urteil über die Person oder ihr Verhalten auf der Grundlage ihrer Vorteilskraft. Genau das passiert auch, wenn wir Pferde vermenschlichen.

Was sagt die Ethik dazu?

Der Anthropomorphismus wurde lange als Kardinalfehler von Ethiker*innen angesehen, wenn es darum geht, Tiere zu beschreiben, weil sie besorgt waren, welche Konsequenzen diese Misinterpretation nach sich ziehen könnte.

Spannend fand ich dabei den Gedanken von Frederik Karlsson, der darauf hinweißt, dass es in vielen Sprachen eigene Begriffe für die Füße von Tieren gibt (z.B. Pfoten, Hufe, Klauen), aber nicht für ihre Emotionen. Dabei gibt es diese Begriffe für andere biologische Prozesse: Während eine Frau schwanger ist, spricht man bei einer Stute davon, dass sie tragend ist. Karlsson weißt darauf hin, dass es hier eine sprachliche Asymmetrie gibt, die darauf hindeutet, dass tierische Emotionen denen von Menschen so ähnlich sind, dass keine speziellen Begriffe benötigt werden.

Hast du darüber schon mal nachgedacht? Ich definitiv nicht!

Sollten wir Vermenschlichung vermeiden?

Nicht unbedingt! Eine völlige Vermeidung kann ins Gegenteil kippen – in den Mechanomorphismus.

Okay, was ist das jetzt schon wieder?

Mechanomorphismus beschreibt das Zuschreiben mechanischer Eigenschaften zu Lebewesen. Das wäre so etwas wie „Das Pferd muss funktionieren“ oder „Die Hinterhand ist der Motor des Pferdes“.

Diese Art der Nutzung der Sprache könnte Pferde (oder Tiere generell) wieder als nicht fühlende Maschinen deklarieren, was dann wieder zur Instrumentalisierung führen kann. Das Pferd wäre dann nur noch ein Leistungsobjekt.

Außerdem geraten wir so schnell in den Bereich des Reduktionismus (sorry für die ganzen -ismen!). Das bedeutet, dass komplexe biologische oder psychologische Prozesse auf einfache Abläufe reduziert werden.

Und davon wollten wir uns (zumindest in meiner Welt, in der das Empfinden des Pferdes sehr wichtig ist und ihm nicht abgesprochen wird) entfernen.

Fazit

Ein Mittelweg ist gefragt!

Ja zur Empathie! Sie hilft uns, Pferde besser zu verstehen und ich finde es wichtig, sie als lebendige Wesen mit eigenen Emotionen zu sehen.
Aber nein zur Über-Vermenschlichung! Pferde nehmen die Welt anders wahr als wir. Ihr Verhalten mit unserem gleichzusetzen und zu erklären, ist zu einfach gedacht und kann zu kleineren und größeren Problemen führen.

Unser Ziel sollte es sein, Pferde artgerecht zu behandeln – nicht nach menschlichen Maßstäben, sondern nach ihren eigenen. Und das geht nur, wenn wir uns kontinuierlich selbst hinterfragen und fortbilden, um die Welt möglichst oft aus Pferdeaugen sehen zu können (und auch da immer wieder zu reflektieren ob wir wirklich wissen, warum das Pferd handelt, wie es handelt, oder ob wir es nur vermuten).

Es ist sicherlich kein einfacher Balanceakt, aber sich überhaupt mit der Frage auseinanderzusetzen, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Quellen

Heider, F.; Simmel, M. (1944). An experimental study of apparent behavior. American Journal of Psychology. 57. 243 – 259.

Karlsson, F. (2012). Critical Anthropomorphism and Animal Ethics. Journal of Agricultural and Environmental Ethics. 25. 707 – 720.

Mota-Rojas, D.; Mariti, C.; Zdeinert, A.; Riggio, G.; Mora-Medina, P.; del Mar Reyes, A.; Gazzano, A.; Domínguez-Oliva, A.; Lezama-García, K.; José-Pérez, N.; Hernández-Ávalos, I. (2021). Anthropomorphism and Its Adverse Effects on the Distress and Welfare of Companion Animals. Animals. 11(11). https://doi.org/10.3390/ani11113263

Lexikon der Psychologie: Heuristik

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